(1) Was sagen dazu Menschen mit Autismus?
Unter Menschen mit Autismus gibt es sehr unterschiedliche Haltungen zur eigenen Besonderheit und damit auch zum Thema Heilung. Es gibt Menschen, die den Autismus als störend empfinden und deren Ziel es ist, sich vom Autismus zu befreien. Andere Menschen mit Autismus bezeichnen diesen als durchaus identitätsspendend und damit auch als einen Teil der eigenen Person, der einen Wert hat.
Christine Preißmann (2015), eine Frau mit Autismus (Ärztin und Autorin) schreibt zum Thema Identität, dass viele Jugendliche mit Autismus unter dem Druck stehen, nicht aus der Masse der anderen Jugendlichen herauszustechen – sich also anzupassen (wie es für viele Pubertierende üblich ist). Dieser Anpassungsdruck trägt bei vielen Jugendlichen dazu bei, dass sie den Autismus loswerden möchten, sich nach Heilung sehnen. Preißmann beschreibt jedoch auch, dass es für sie und andere Personen mit Autismus Lebensglück bedeutet, im Erwachsenenalter zunehmend authentisch sein zu können und sich nicht mehr so oft verstellen zu müssen, endlich so sein zu können wie man ist. Sich verstellen zu müssen, bedeutet großen Stress (Preißmann, 2015). Das spricht dafür, dass Autismus bei vielen Betroffenen lang andauernde Besonderheiten bedingt und dass Lebensqualität mit Autismus möglich ist. „Das Ziel dabei ist dann insbesondere im Erwachsenenalter eben nicht die Normalisierung, also die Fähigkeit, nicht aufzufallen, sondern es geht darum, ein für die eigene Person passendes Leben zu führen.“ (Preißmann, 2015, S. 21)
(2) Was sagen die Eltern?
Eltern von Kindern mit Autismus bewegen sich in ihren Haltungen zum Thema Heilung zwischen dem Wunsch auf Heilung und der Akzeptanz des Autismus als einen Teil der Persönlichkeit des eigenen Kindes. Hier gibt es kein richtig oder falsch. Eltern brauchen Begleitung in der Phase der Auseinandersetzung mit der Behinderung / Beeinträchtigung ihres Kindes. Dabei können sie unterschiedliche, für Lebenskrisen typische Phasen durchlaufen. (vgl. Trauerspirale von Schuchard).
Der Wunsch nach Heilung kann dazu beitragen, dass Eltern z.T. kostspielige Therapieansätze ausprobieren, die Heilung versprechen, für deren Wirksamkeit es jedoch keinerlei Belege gibt. Am Ende stehen dann meist eine große Enttäuschung, hohe Rechnungen und viel verbrauchte Energie.
(3) Was sagen Therapeuten?
Es gibt unterschiedliche Haltungen zu Therapien und deren Zielsetzungen im Autismus-Bereich. Vertreter einiger Therapieformen fordern, dass Therapie darauf abzielen muss, dass ein Mensch mit Autismus Kompetenzen erlernt, mit denen er sich in die Normalität der anderen Menschen einfügen kann. Andere Therapeuten formulieren Zwischenwege: Eine Eingliederung in die Gemeinschaft kann dann am besten gelingen, wenn der Mensch mit Autismus so viele soziale und kommunikative Kompetenzen und Fertigkeiten zur Alltagsbewältigung wie möglich erwirbt sowie das Umfeld für die Besonderheiten des Menschen mit Autismus sensibilisiert wird, um sich darauf einzustellen. Mit sozialer kommunikativer Kompetenz ist in diesem Zusammenhang auch gemeint, dass man ein Bewusstsein für die eigene Kommunikation und soziale Kompetenzen und deren Effektivität erwirbt und ggf. Ausgleichsstrategien erlernt.
(4) Was sagt die Wissenschaft?
Bei der Interpretation von Ergebnissen wissenschaftlicher Studien ist zu beachten, dass die Gültigkeit der Ergebnisse stark von der Qualität der Studien abhängig ist. Es kann auch vorkommen, dass anekdotische Berichte zu den Erfolgen von Interventionen den Ergebnissen von wissenschaftlichen Studien widersprechen.
Die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Thema Heilung in mehreren Aspekten:
1. Therapieforschung: Die Effekte von Therapien werden untersucht. Über den aktuellen Forschungsstand im Bereich Autismus kann man sich auf der Internetseite www.researchautism.net informieren. Im Bereich der Therapieforschung sind jedoch einige Einschränkungen zu beachten:
a. Es gibt insgesamt bisher zu wenig Therapie-Forschung. Daher sind nur begrenzte oder auch gar keine verlässlichen Aussagen für viele Therapien möglich.
b. Viele Therapiestudien sind von geringer Qualität und damit in ihrer Aussagekraft eingeschränkt.
c. Im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen werden meist nur einzelne Therapieansätze beforscht. In der Praxis finden jedoch üblicherweise gemischte Ansätze Anwendung, es wird meist eklektisch vorgegangen. Nach den individuellen Bedarfen werden Therapiebausteine zusammengestellt und angewendet.
2. Remission: Es werden Einzelfälle berichtet, bei denen es zu einer Remission gekommen ist. Dies kann mit der Schwere der Symptomatik zusammenhängen und anderen individuellen Schutzfaktoren, mit einer sehr positiven Reaktion auf therapeutische und pädagogische Unterstützungsangebote sowie mit optimalen Umweltbedingungen (häuslich, schulisch etc.). Für die Mehrzahl der Menschen mit Autismus gilt jedoch bisher, dass positive Verläufe möglich sind, aber eben keine Heilung.
3. Medikation: Es gibt noch keine Medikation, mit der die Autismus-Kernsymptome behandelt werden können. Wenn andere Behandlungsansätze nicht erfolgreich waren, stehen zur Behandlung von den Autismus begleitenden Symptomen einige Medikamente zu Verfügung, die sich in qualitativ guten Studien als effizient erwiesen haben: dies insbesondere bei der Behandlung von Hyperaktivität, intensiver Störbarkeit und Unruhe sowie repetitiven Verhaltensweisen. Im Zusammenhang mit der Medikation müssen immer die möglichen Nebenwirkungen berücksichtigt werden.
4. Neue Ansätze: Es gibt medikamentöse Ansätze zu Behandlung einiger syndromaler Autismusformen wie dem Fragilen X-Syndrom und der tuberösen Sklerose. Einige Medikamente haben sich in vorklinischen Studien im Tier- und Humanmodell positiv auf die Kernsymptomatik der beiden Syndrome ausgewirkt (Bölte, 2015). Weitere Forschung wird in diesem Bereich erforderlich sein. Die Zulassung von Medikamenten ist sehr zeitaufwändig. Von Studien im Tier- und Humanmodell bis zur Zulassung eines Medikaments können 10 Jahre und mehr vergehen. Die Medikamente, an denen aktuell geforscht wird, beziehen sich nur auf die genannten syndromalen Autismusformen.
5. Negative Evidenz: Für die folgenden Förder-/Therapieansätze gibt es leichte bis deutliche Hinweise auf negative Evidenz, d.h. dass eine Intervention keine positiven Auswirkungen auf die autistische Kernsymptomatik bzw. andere mit dem Autismus in Verbindung gebrachte Symptome hat:
- Auditorisches Integrationstraining,
- Dimethylglycin,
- Gestützte Kommunikation,
- Immunoglobuline,
- Patterning Therapie,
- Secretin.
Quelle: http://researchautism.net/autism-interventions/our-evaluations-interventions
MMS-Produkten wird von den Herstellern u.a. auch eine heilende Wirkung bei Autismus zugesagt.
Es gibt eine dringende Warnung vor der Verwendung von Natriumchlorit -"MMS" (Miracle Mineral Supplement) als Heilmittel. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) warnt vor der Nutzung dieser Produkte: Es sieht MMS-Produkte als bedenklich an, „weil der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein vertretbares Maß hinausgehen.“ (https://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/mitteil2015/pm3-2015.html)
Hinweis:
Mit diesem Abschnitt wollen wir die Komplexität des Themas Heilung verdeutlichen. Dieser Bereich kann hier nur in einigen Ausschnitten und nicht abschließend behandelt werden. Wenn Personengruppen angesprochen sind, handelt es sich nicht um Aussagen, die für alle Personen einer Gruppe gleichermaßen gelten müssen.
Bei der Vielfalt der Erscheinungsformen wird es in Zukunft darauf ankommen, passende Therapie- und Unterstützungsbausteine für die einzelne Person mit Autismus und ihr Umfeld zusammenzustellen, um individuell passend die Entwicklung positiv beeinflussen zu können (Skuse, 2010).
Die Diskussion über das Thema Heilung sollte unter Einbeziehung aller beteiligten Personengruppen – mit Berücksichtigung ethischer Fragestellungen – offen geführt werden.
Literatur:
Bölte, S. (2015) Ist Autismus heilbar. autismus. Nr. 80_Dezember 2015, 6-13
Preißmann, C. (2015) Glück und Lebenszufriedenheit von Menschen mit Autismus. autismus. Nr. 80_Dezember 2015, 16-24
Skuse, D. (2010) Mythen über Autismus. In: H.C. Steinhausen & R. Gundelfinger (Hrsg.): Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer